Die vierte Dimension des Oleg Drobitko
Alles hat seine Stunde, und eine Zeit ist bestimmt
für jedes Ding unter dem Himmel…
Eine Zeit, Steine zu werfen, und eine Zeit,
Steine zu sammeln …
Das Buch Prediger
Der Künstler mit dem schöpferischen Imperativ in der Seele wählt selbst die Zeit aus, um unter seinem Himmel „jegliches Ding“ zu schaffen. In Japan, sagt man, gäbe es die Tradition, daß die Künstler — Philosophen dreimal im Leben ihren Namen ändern, um durch das neue “ ich“ sich selbst und die Welt besser zu erkennen. Es versteht sich aber von selbst, wie oft nun der Künstler seinen Namen auch ändern möge, wie auch immer sein neues „ich“ lauten möge, immer wird es das „ich“ desselben Künstlers sein, mit der von ihm erlittenen Lebenserfahrung, mit dem ihm von Gott gegebenen Talent und mit der durch große Werke erworbenen Meisterschaft.
Und hier haben wir ein Paradoxon, der Künstler kann nur er selbst bleiben, indem er sich ständig … ändert. Denn nur, indem er sich ständig ändert und diese Änderungen jedes Mal mit den unveränderlicher und hohen Konstanten des Seins verbindet, behauptet sich der Meister sowohl im Leben als auch in der Kunst als Meister.
Und so sehen wir heute denselben und einen anderen Oleg Drobitko!
Mit biblischer Konzentration und dem feinen Gespür für Zeit hat der Künstler die Steine gesammelt, die er braucht, um mit diesem Baumaterial oder, genauer, diesem Darstellungsmaterial mit der Präzision eines Juweliers und in sicherer Gelassenheit die Handlung auf der Bühne seines „Theaters der Steine“ zu erstellen.
Die einfachen Ziegelsteinchen jenes Universums, in dessen Raum der Baumeister Oleg Drobitko seine außergewöhnliche architektonische Tätigkeit entfaltete, sind natürlich nur Metaphern, sind bildhafte Bedingtheit, und das versteht man auf den ersten Blick. Aber eben darum sind die eine verzaubernde paradoxe Rätselhaftigkeit ausstrahlenden Kunstwerke des Oleg Drobitko eine allzu komplizierte Materie, als daß der Betrachter sich aus dieser Materie nach dem ersten Blick rasch etwas „zuschneiden“ und anprobieren könnte. Die leicht lesbaren literarischen Inversionen und Paradoxa, auf denen gewöhnlich der Meister seine herrlichen Kompositionen voll innerer Dynamik und sanfter ironischer Lyrik mit glänzen — der Meisterschaft aufbaut, sie sind nur der Ausfluß der künstlerischen Elementarkraft des Oleg Drobitko. Die Elementarkraft seiner epischen Kompositionen selbst ist weit stärker und liegt noch tiefer. Und um das Wesen des von Oleg Drobitko begon — lenen herrlichen intellektuellen und künstlerischen „Spiels mit den Steinen“ zu verstehen, müssen die Mitspieler all ihre geistigen und emotionalen Ressourcen einsetzen, denn das Spiel ist nicht einfach.
Daß die Malerei des Oleg Drobitko skulpturhaft sei und seine Skulpturen malerisch seien, ist schon vor langer Zeit und nicht nur einmal gesagt worden.
Daß die symbolische steinerne Materie, aus der die Kompositionen des Oleg Drobitko hervorwachsen, in ihrer physischen, natürlichen Realität absolut nicht steinern ist, sondern daß sie der Künstler aus Holz, Metall, Textilien, Farb-Fakturklumpen und aus Strichen ausgeführt hat, was die Illusion einer Materie aus hartem Stein vermittelt und diesen imitiert, stellt auch kein so schwerwiegendes konzeptuelles Paradoxon dar. Es ist schon vorgekommen, daß der glänzende Meister der Faktur, Oleg Drobitko, auch schon einmal nichts Derartiges vor die verwunderten Augen des Publikums hingestellt hat…
Nun gut, drücken wir es vielleicht so aus: Hier der Stein, ein Symbol des Dreidimensionalen, und alles, was man mit seiner Hilfe erbaut, ist ebenfalls dreidimensional, und kraft der durch den Künstler gewählten Symbolik ist alles in seiner Welt voluminös, räumlich, vieldeutig etc., etc.?… Nun wird es schon wärmer, ist aber noch nicht heiß genug und in Bezug auf das Ziel für Oleg Drobitko eben noch nicht voluminös genug, denn dem Künstler ist es zu eng in drei Dimensionen! Wenn Oleg Drobitko das Bild der Drei dimensionalität und den Begriff der drei Dimensionen gebraucht, dann nur, um diesen seine Dimension, die vierte, gegenüberzustellen. Und das von Oleg Drobitko begonnene „Spiel mit den Steinen“ ist nun gerade der Logik dieser vierten Dimension unterworfen.
Worin aber bestehen Wesen und Maß? Worin besteht die sakrale Zauberkraft und das metaphysisch Geheimnisvolle des Spiels des Oleg Drobitko? Wodurch bezaubern uns die steinernen Wolken und die Bäume mit den steinernen Blättern und den in ihren Zweigen sitzenden gewichtlosen steinernen Vögeln, deren Gesang ein marmorwolkiges Bild suggeriert, aufgelöst im Kolorit allgemeiner frühlingshafter Durch-geistigung?…
Warum ruft der seltsame steinerne Herbst, in dessen Raum, zwischen den verwundenen Zweigen (aus Eisenbeton?) zwei geheimnisvolle Figuren versunken sind, verbunden durch die Gemeinsamkeit zwischen herbstlichem Zustand und Sein, eine so tiefe philosophische Trauer hervor? … Mit welch unbegreiflicher Gestalt ruft uns das rätselhafte menschliche Antlitz, rhythmisch akkurat mit Ziegeln gelegt, dennoch zum Umgang tete-ä-tete?… Kraft welcher Natur beginnt die Skulptur der mit juwelierhafter Präzision aus den gleichen Ziegeln gemachten Geige — Flöte von der Berührung durch unseren Blick wie von den Berührungen eines Bogens zu klingen?…
Und so ist es bei jeder Komposition des Zyklus, Malerei oder Skulptur. Die von Oleg Drobitko gesammelten Steine atmen das Leben der lebendigen Natur, die Ziegel der Welt werden zu den Blumen der Welt. Und es macht keinen Unterschied, welche Materie es ist, Ziegel oder äolische Harfe, es kommt ein herrlicher Ton hervor, wenn dieser Ton am Anfang von der inneren Stimme des Meisters selbst geschaffen wurde; und der wahre Quell dieses Tons ist der Geist des Künstlers. Und dennoch, weshalb dünkt uns denn der Stein anstelle des blühenden Baums, der fliegenden Wolken, der singenden Vögel, des lebendigen menschlichen Fleisches diesem allem unverhohlen widersprüchlich zu sein? Wie sind die seltsamen stofflichen und philosophischen Grenzüberschreitungen des Oleg Drobitko zu verstehen, womit ist sein künstlerischer Ausbruch zu erklären, den Geist der Dinge und Erscheinungen durch ganz und gar nicht entsprechende, diesem Geist widersprechende Bilder und sogar durch andere Stoffe zu materialisieren?
Das schöpferische Rätsel des Oleg Drobitko ist, daß seine vierte Dimension, seine künstlerische Philosophie, eben auf dem Begriff des Paradoxons, auf der Logik der Einheit der Nichtübereinstimmungen beruht. Die Arbeiten des Oleg Drobitko sind juwelierhaft monumental, episch gegenwärtig, schweigsam klangvoll, materiell beseelt. Die schöpferischen Methoden dieses großen, scharfdenkenden Meisters beruhen darauf, den künstlerischen Raum als einheitliches Medium der Koexistenz von Materie und Geist zu verstehen. Alles ist Leben. Und im neuen Kompositionszyklus verkörpert das Bild des Steins absolut nicht Statik, sondern die Dynamik des Bauprozesses, d.h., des schöpferischen Prozesses, ja, mehr als das, die Dialektik dieses Prozesses. Das metaphysisch Geheimnisvolle des Geistigen materialisiert sich bei Oleg Drobitko künstlerisch durch die Dialektik der Erkenntnis der vollkommen stofflichen Welt durch ihn. Der Welt der gewöhn lichen Dinge, der Menschen, der Erscheinungen. Und gleich sam von selbst, aus den von Oleg Drobitko gesammelten Steinen, wie aus den Eisschollen der Schneekönigin, bildet sich die paradoxe semantische Wortverbindung, die metaphysische Dialektik, heraus. Es klingt absurd, etwa wie „rundes Quadrat“. Aber darin bestehen Wesen und Form des nächsten philosophischen und schöpferischen Paradoxons, das uns der Künstler vorlegt, die vierte Dimension seines Werks. Der Künstler liebt es, in seinen Kompositionen Bogen zu komponieren.
Der letzte, der „rechtwinklige“ Schlußstein, der von den Bauarbeitern feierlich in den zu errichtenden Bogen gesetzt wird, ist das Pfand für seine Unzerstörbarkeit und für seine luf tige, schwebende Festigkeit. Dieser symbolische, äußerlich von den anderen nicht zu unterscheidende Stein ist der wichtigste. Dank ihm schwebt der schwere steinerne Bogen widernatür lich im Raum, fliegt gewichtslos über die Erde. Das Geheimnis dieses und diesem ähnlicher Steine kennt nur der, der es versteht „Steine zu sammeln“. Dieses Geheimnis hat Oleg Drobitko erkannt. Selbstverständlich, dieser und die ihm ähnlichen Steine sind nicht mehr als ein Symbol, sie sind nur ein Symbol!… Aber das gilt auch für das Buch Prediger.
Arkadij Klenov