Verlassene Paläste, versteinerte Grazien: Die magischen Welten des Oleg Drobitko
Der aus dem fernen Kasachstan stammende russische Maler und Bildhauer Oleg Drobitko ist nicht nur ein Künstler im landläufigen Sinne, sondern ein Zauberer, ein Magier, ein Meister der Verwandlungen, Vertauschungen und bund Camouflagen. Nicht nur, dass er ein verwandlungsreiches Spiel mit den Motiven und Objekten seiner Kunst treibt, sondern dass er sich selbst bei diesem Spiel wie Proteus ständig verwandelt, wobei er Vorhang um Vorhang zu immer neue Kulissen öffnet und damit den Blick in immer neue Wirklichkeiten freigibt. Dabei verschieben sich nicht nur fortwährend die Grenzen zwischen Realem und Imaginären, zwischen Innenwelt und Außenwelt, Oberfläche und Hintergrund, sondern auch zwischen Flächen und Räumen, Organischen und Leblosem, natürlicher und künstlicher Welt.Nicht ganz zu Unrecht denkt man bisweilen an die magischen Vexierbilder des belgischen Surrealisten Rene Magritte. Man könnte auch sagen: Drobitko ist im gleichen Sinne, wie er Maler und Bildhauer ist, auch Poet und, vor allem, ein Mensch des Theaters. Denn er „theatrelisiert“ seine Räume, indem er sie zu Bühnen macht für den Auftritt seiner seltsamen Völker von Puppen und Monstren, Maschinengöttern und steinernen Prinzessinnen, die sich jeder Annäherung verweigern, gleichwohl aber mit ihren Lockungen und Enthüllungen ein ebenso kokettes wie frivolgrausames Spiel treiben.
Hier finden die Vermählungen statt, von denen einst der Comte de Lautre-mont nur träumen konnte: die surrealen Paarungen, in denen sich Organisches und Anorganisches zu einer neuen, monströsen Gattung verbindet, Kaffeemühle, Fleischwolf und Grammophon auf ebenso gespenstische Weise zu leben beginnen, wie die kurvenreiche Diva mit der Wespentaille im ziegelroten Backsteinleib erstarrt oder in samtenen Corsagen und Plüsch erstickt. Auf den ersten Blick könnte man Oleg Drobitko für einen Surrealisten halten, und in der Tat führt uns die Spurensuche zurück zum heimlichen Ahnherren und Vorbild der Surrealisten aller Couleur: dem graecoitalienischen Maler Giorgio de Chirico und seinem Bruder Alberto Savinio. Denn hier wie dort begegnet man jenen gespenstisch-gesichtslosen Wesen, die einem Reich vergessener Toter entstiegen zu sein scheinen. Hier wie dort auch die Hybridisierungen, die der Hochzeit von Mensch und Maschine entstammen.
Doch Drobitko lädt seine Geschöpfe nicht zu jenem eleganten, anmutigen Tanz ein, zu dem sich die schon von der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts als beseelte Wesen von engelhafter Unschuld bestaunten Automatenpuppen aus Holz und Metall auffordern ließen und die noch den Gliederpuppen und „manchini“ von De Chirico zum Vorbild gedient haben dürften. Drobitko hingegen verpackt seine Geschöpfe, verhüllt sie mit Stoffresten und bizarren Bandagen, ja wickelt sie regelrecht ein und verschnürt sie, solange bis die Verpackung mit ihrem Inhalt eins geworden ist. Dabei drapiert er seine Figuren mit Stoffteilen, die manchmal den Charakter von Mumienbinden annehmen, bisweilen aber auch ihr Ausgangsmaterial so zu verändern scheinen, dass sie beispielsweise Ziegelmauern oder einem Harnisch ähnlicher sind als dem, was sie zu sein vorgeben, nähmlich Kleidern. Solch raffinierte Travestien legen im Grunde genau das frei, was sie verhüllen, sei es die Leere hinter der Fassade oder das entseelte Fleisch, das in der Umarmung mit dem fremden Material versteinert oder gefriert. So dient der Schnürleib etwa im Rokoko das Stilmittel schlechthin zur erotischen Modellierung des weiblichen Körpers, bei Drobitko nicht etwa zur Steigerung weiblicher Grazie und Eleganz, sondern des Gefühls der Unerreichbarkeit dessen, was die Hülle verbirgt: das Fleisch, zugeschüttet und erstickt von immer neuen Draperien und Stoffteilen, erweist sich schließlich selbst nur als neuerliche Verhüllung. Bei Drobitko ersetzen nicht die künstlichen Figuren den Menschen wie bei Chirico oder Savinio, sondern sie scheinen ihn zu parodieren, ja ein Spiel einander farblösender Verwandlungen und Täuschungen, Verblüffungen und Camouflagen inszenieren zu wollen, bei dem die Erwartungen dessen, der diesem Spiel beiwohnt, für immer unerfüllt bleiben. All die entbehrt nicht einer feinen und sehr subtilen Ironie, was auch den Abstand zu den genannten Vorbildern deutlich werden lässt. Die pathetische Gebärde wird immer durch Ironie gebrochen und damit in einen Schwebezustand zwischen Ernst und Possenspiel, Heiterkeit und Melancholie, Tragik und Buffonerie versetzt. Doch die in immer neuen und abenteuerlichen Metamorphosen sich präsentierenden Figuren und Akte sind keineswegs die einzigen Bewohner von Drobitkos Wunderkabinetten. Hier findet man neben gemauerten Frauenakten aus Backstein auch Bäume aus Ziegelwerk, bevölkert von einer gefiederten Gesellschaft aus dem gleichen Material, ebenso Wolken, deren Schwerelosigkeit dem Granit Hohn spricht, aus dem sie bestehen. Und dann plötzlich, mit einemmal und ohne dass man wüsste warum, gelangt man in Räume, die von ihren Bewohnern schon vor unvordenklichen Zeiten aufgegeben und verlassen wurden, Räume, die an Renaissancepaläste ebenso erinnern wie an manieristische Traumschlösser, an die „Carceri“ von Piranesi ebenso an Mussolinis faschistische Architekturen in der nach seine Anweisungen gestalteten Trabantenstadt in den Außenbezirken von Rom. Doch nun haben gigantische Bowlingkugeln, die in ihrer Schwere und Bedrohlichkeit an auf die Erde herabstürzende Planetoiden erinnern, von den entvölkerten Palästen Besitz ergriffen, und man man vermeint den lauten Widerhall des granitenen Klangs zu vernehmen, mit dem sie die Treppenaufgänge und Loggien erstürmen. Unversehens kann man sich beim Abschreiten der Bilder urplötzlich im Reich der Skulpturen wiederfinden und hat dabei kaum den Übergang von der zweiten Dimension zur dritten bemerkt. Diese Skulpturen, deren marmorner Leib das Fleisch ihre Vorbilder an Lebendigkeit übertrifft.huldigen der Liebe ebenso wie der Musik und scheinen auf eindrucksvolle Weise der Sage von Pygmalion recht zu geben, der ein Marmorbild der Göttin Aphrodite schuf, in das er sich unsterblich verliebte.
Drobitkos Skulpturen bestehen häufig aus dem gleichen feierlichen Material: dem legendären Carrara-Marmor, aus dem die Künstler des Altertums Heiligtümer und Götterbilder schufen – ein Material von höchster Noblesse und Eleganz, das zur Berührung, ja zur Anbetung und Liebkosung zwingt. Der Künstler bearbeitet den ehrwürdigen Stein, indem er ihn mit seinem Werkzeug streichelt anstatt ihn zu verletzen, die weiche, glattpolierte Oberfläche mit zarten Lineamenten, mit Kurven, Furchen, Riefeln, Kan neluren und auch mit kleinen Piktogrammen unterbricht, ohne der marmornen Haut etwas von ihrer Makelosigkeit, Glätte und Reinheit zu nehmen. Auch hierin gleicht der Künstler dem Pygmalion der Sage, indem er dem Stein — oder bisweilen auch dem Holz – Leben einhaucht, ihn mit seinem Meißel „beatmet“ und selbst kälteste und tote Materialien in senen Bildern zum Leben erweckt.
Leo Maria Giani